1.

Fünfzig Jahre. Ein halbes Jahrhundert. So lange hatte er warten müssen, bis er es zum ersten Mal in der Hand hielt. Vor allem kam es völlig unerwartet. Gab es doch weder einen besonderen Anlass oder noch irgendeinen anderen Hinweis auf das, was ihm da auf einmal in die Hände fiel. Es war einfach da. Lag in einer dieser Tüten, die ihm sein Vater bei seinen sporadischen Besuch immer mitbrachte. Tüten war eigentlich schon zu viel gesagt – meistens handelte es sich um eine ausrangierte Kunstoffhülle im DIN A4 Format, die zum Abheften in irgendwelchen Ordnern seit Jahrzehnten ihr Dasein fristete und nun auf wundersame Weise wieder das Licht der Welt erblickte, nachdem sie in einem der Schränke der ersten selbstgekauften Küche seiner Eltern aus den 1970er Jahren, die man ja vielleicht noch mal irgendwo einbauen konnte, im Keller standen. Der Kunstoff war meistens schon in verschiedenen Schattierungen von Gelb angelaufen, jeglicher Weichmacher hatte seinen Dienst aufgegeben und sich verflüchtigt und seine Abwesenheit hatte dafür gesorgt, daß die brüchigen Reste schon bei mäßig festem Anfassen sich in kleinen Stücken lösten, unter den Schrank in der Diele fielen und im besten Fall von den Kindern beim Staubsaugedienst mit Freude aufgesogen wurden, da diese von dem lauten Klappern der kleinen Brocken im Staubsaugerrohr das gute Gefühl hatten ihren ungeliebten Tribut zur Haushaltshygiene mit großem Erfolg zu erfüllen. Im schlechtesten Fall hatte der Hund sie entdeckt, probiert und sich dabei eine Magenverstimmung zugezogen, aus der er mit einer mehrtägigen Diät aus stundenlang gekochter Möhrensuppe seine Erlösung suchte.

Es war nicht mal Handteller groß in SchwarzWeiss und zeigte einen blonden Mann, der aus einer Luke schaute, von der nicht zu bestimmen war, ob es der Einstieg eines U-Bootes war oder der Abstieg in ein Rohrsystem eines Kraftwerkes. Es war das erste Mal, daß er ihn sah. Den Mann, von dem sein Onkel nur in den höchsten Tönen sprach und der in dem gesamtem Leben seiner Mutter ihr nur einen einzigen Satz wert war: „Er war ein schlechter Mensch.“ Die Art, wie sie es sagte ließ ihn gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, warum er denn schlecht gewesen sei, denn ihm war selbst als Junge klar, daß sich hinter den Worten der Mutter ein Abgrund auftat, den zu benennen ein Tabu war. Er wunderte sich. Wie nach so vielen Jahren der vergeblichen Suche plötzlich diese alte Photographie auf seinem Schreibtisch lag und ohne das er es schon wissen konnte, sie den Blick freigab in eine Welt, die ihm bis dato verborgen geblieben war. Eine Welt mit komplett diametral liegenden Erinnerungen an eine Zeit, die sein Leben, sein Wesen und sein Innerstes mehr formte, als er und seine Umgebung ihr zuzugestehen war.